Der Predigttext für heute stammt aus dem Alten Testament.
Es ist der Anfang des Buches Rut.
Der Abschnitt ist ungewöhnlich lang, ich will ihn aber trotzdem ganz vorlesen, weil ich glaube, es lohnt sich wirklich sehr:
Zu der Zeit, als die Richter richteten, entstand eine Hungersnot im Lande. Und ein Mann von Bethlehem in Juda zog aus ins Land der Moabiter, um dort als Fremdling zu wohnen, mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen. Der hieß Elimelech und seine Frau Noomi und seine beiden Söhne Machlon und Kiljon; die waren Efratiter aus Bethlehem in Juda.
Und als sie ins Land der Moabiter gekommen waren, blieben sie dort.
Und Elimelech, Noomis Mann, starb, und sie blieb übrig mit ihren beiden Söhnen.
Die nahmen sich moabitische Frauen;
die eine hieß Orpa, die andere Rut.
Und als sie ungefähr zehn Jahre dort gewohnt hatten, starben auch die beiden, Machlon und Kiljon. Und die Frau blieb zurück ohne ihre beiden Söhne und ohne ihren Mann.
Da machte sie sich auf mit ihren beiden Schwiegertöchtern und zog aus dem Land der Moabiter wieder zurück; denn sie hatte erfahren im Moabiterland, dass der Herr sich seines Volkes angenommen und ihnen Brot gegeben hatte. Und sie ging aus von dem Ort, wo sie gewesen war, und ihre beiden Schwiegertöchter mit ihr.
Und als sie unterwegs waren, um ins Land Juda zurückzukehren, sprach sie zu ihren beiden Schwiegertöchtern:
Geht hin und kehrt um, eine jede ins Haus ihrer Mutter!
Der Herr tue an euch Barmherzigkeit, wie ihr an den Toten und an mir getan habt.
Der Herr gebe euch, dass ihr Ruhe findet, eine jede in ihres Mannes Hause!
Und sie küsste sie.
Da erhoben sie ihre Stimme und weinten und sprachen zu ihr:
Wir wollen mit dir zu deinem Volk gehen.
Aber Noomi sprach: Kehrt um, meine Töchter!
Warum wollt ihr mit mir gehen? Wie kann ich noch einmal Kinder in meinem Schoße haben, die eure Männer werden könnten? Kehrt um, meine Töchter, und geht hin; denn ich bin nun zu alt, um wieder einem Mann zu gehören.
Und wenn ich dächte: Ich habe noch Hoffnung!, und diese Nacht einem Mann gehörte und Söhne gebären würde, wolltet ihr warten, bis sie groß würden? Wolltet ihr euch einschließen und keinem Mann gehören? Nicht doch, meine Töchter! Mein Los ist zu bitter für euch, denn des Herrn Hand hat mich getroffen.
Da erhoben sie ihre Stimme und weinten noch mehr.
Und Orpa küsste ihre Schwiegermutter, Rut aber ließ nicht von ihr. Sie aber sprach: Siehe, deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott; kehre auch du um, deiner Schwägerin nach.
Rut antwortete: Bedränge mich nicht, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.
Als sie nun sah, dass sie festen Sinnes war, mit ihr zu gehen, ließ sie ab, ihr zuzureden. So gingen die beiden miteinander, bis sie nach Bethlehem kamen.
Herr, segne unser Reden und Hören durch Deinen Heiligen Geist. Amen.
Eine Geschichte wie so viele im Alten Testament.
Hungersnot, Auszug aus dem eigenen Land,
Tod und Neubeginn, Völker, von denen man noch nie etwas gehört hat.
Ein bisschen zu viele und zu unbekannte Namen, als dass man alles gleich auf Anhieb verstehen könnte.
Und im Hintergrund Gott, der ziemlich genau weiß, was er wie lenken muss, dass die Geschichte des Volkes Israel trotz aller Gefährdungen weiter geht.
Aber, wenn man genau hinhört, dann ist diese Geschichte anders. Ganz anders.
Zunächst mal: Es geht um Frauen.
Männer spielen nur als Statisten mit.
Eine ganze Geschichte, die sich um das Schicksal von Frauen dreht, das ist dann doch eher die Ausnahme im Alten Testament.
Und es geht um das Verhältnis zu den anderen Völkern.
Auch das ist im Alten Testament ein eher schwieriges Kapitel.
Im Buch Rut aber wird eine Ausländerin zu einer wichtigen Figur in der Geschichte.
Ganz am Schluss des Buches stellt sich heraus, dass Rut, die Frau aus dem Land Moab, die Urgroßmutter von König David ist.
Mehr Ehre geht kaum.
Das Buch Rut ist also in jeder Hinsicht etwas ganz Besonderes.
Die Geschichte beginnt mit einer Krise.
In Bethlehem herrscht Hunger.
Noomi und ihrem Mann bleibt nichts anderes übrig, als vor dem Hunger zu fliehen.
Sie ziehen dort hin, wo man eigentlich nicht hingeht: ins Land der Moabiter.
Keine gute Gesellschaft, glaubt man den Überlieferungen des Volkes Israel.
Immer wieder wird in den Schriften des Alten Testaments vor diesen Moabitern gewarnt.
Aber offensichtlich fühlt sich die Familie von Noomi hier einigermaßen wohl und bleibt.
Das geht so lange gut, bis Noomis Mann stirbt.
Die Witwe trauert, aber sie hat ja noch ihre beiden Söhne und nach der Heirat der Söhne auch die beiden Schwiegertöchter, die sich um sie kümmern.
Aber dann sterben auch Noomis zwei Söhne.
Nun bleiben drei Frauen übrig: Noomi, Orpa und Rut.
Was so einfach klingt und so kurz erzählt wird, ist eigentlich eine riesige Katastrophe.
Frauen lebten gefährlich.
Sie waren darauf angewiesen, dass sie Männer hatten oder Kinder - möglichst Söhne - damit sie versorgt waren.
Die Witwen - genauso wie die Waisen - müssen im Alten Israel oft hart an der Grenze zur Armut leben:
Sie haben wenig Rechte, brauchen Fürsprecher.
Wovon sollten die drei Frauen also leben?
Wer beschützt sie vor Ungerechtigkeit, vor Gewalt?
Alle, die diese Geschichte damals gehört haben, hatten diese Fragen sofort im Kopf.
Noomi fasst einen Plan. Sie will diese unhaltbare Situation auflösen.
Ihre beiden Schwiegertöchter werden schon wieder Männer finden hier in Moab, sagt sie sich.
Sie selbst will zurückgehen nach Bethlehem.
Dort, hat sie gehört, gibt es inzwischen wieder Brot.
Sie wird sich durchschlagen. Irgendwie wird es gehen.
Zunächst kommen die beiden Schwiegertöchter mit.
Aber auf halber Strecke sagt sie es ihnen:
Kehrt um. Geht zurück zu Euren Leuten. Sucht euch dort Männer.
Mit mir habt Ihr beiden keine Zukunft.
Drei Frauen, deren Schicksal am seidenen Faden hängt.
Sie spüren das.
Und sie spüren auch, dass sie sich jetzt nicht so einfach trennen können.
Es ist ein trauriges, aber auch ein sehr liebevolles Gespräch, das die drei miteinander führen.
Jede denkt an die Zukunft der anderen, keine will die andere allein in ihr Verderben laufen lassen.
Schließlich küsst Orpa ihre Schwiegermutter und verabschiedet sich unter Tränen.
Rut aber bleibt.
Sie sagt den Satz, der diese Geschichte berühmt gemacht hat:
Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. (...) nur der Tod wird mich und dich scheiden.
Ein Satz, den sich viele Hochzeitspaare als Trauspruch aussuchen.
Und es stimmt ja auch:
Es ist ein Schwur, sich ganz mit einem anderen Menschen zu verbinden.
Mit seiner Herkunft, und auch mit seiner Zukunft.
Selbst wenn es schwierig werden wird und selbst wenn man jetzt noch nicht weiß, was kommt.
Das, was kommt, wollen wir gemeinsam bestehen.
Das heißt dieser Satz.
Und so verstehen ihn die Brautleute, die ihn sich als Trauspruch aussuchen.
Ich erzähle dann immer, dass dieser Satz von einer Schwiegertochter zu ihrer Schwiegermutter gesagt wird, nachdem ihre beiden Ehemänner gestorben sind.
Dann hört er sich nicht mehr ganz so romantisch an.
Trotzdem: Dieser Satz rührt mich zutiefst.
Es sind zwei in tiefe Not geratene Menschen, die beschließen, gemeinsam den Verhältnissen zu trotzen.
Sie haben nur sich - und ihre Beziehung muss die Sicherheit einer Ehe ersetzen.
Sie muss die Fürsorge einer Ehe ersetzen.
Das wird nicht einfach, das wissen beide.
Aber sie wollen zusammen halten und wenigstens sich gegenseitig haben, bei allem, was da kommen kann.
Zwei Frauen, die eine aus Israel und die andere aus Moab:
Da stehen sie auf halbem Weg zwischen diesen beiden Völkern.
Und sie versprechen sich, immer füreinander da zu sein.
Gemeinsam auch gegen die Anfeindungen zusammenzuhalten, die sie nun zu erwarten haben.
Denn, wie gesagt: Moab war in Israel alles andere als beliebt.
Moabiter waren in Israel Ausländer zweiter oder dritter Klasse.
Und eine Ehe zwischen einer Frau aus Moab und einem Israeliten - die konnte man sich im Volk Israel nun gar nicht vorstellen.
Ja, es gab tatsächlich das explizite Verbot solcher Ehen.
Rut hat also keine wirklich rosige Zukunft zu erwarten.
Und trotzdem bleibt sie bei ihrer Schwiegermutter.
Begleitet sie nach Bethlehem.
Das ist eine wirklich große Geste zwischen zwei Menschen.
Die Kraft dieser beiden Frauen hat Grenzen überwunden.
Die Grenze von einem Land zum anderen.
Die Grenzen in den Köpfen, dass mein Volk mehr wert ist als deins.
Ja, diese Geschichte räumt mit einer ganzen Menge von Vorurteilen auf, in denen es sich bequem leben lässt.
Auf viele Hörer der damaligen Zeit wird dieses Buch Rut anstößig gewirkt haben.
Und, ganz ehrlich, so anders ist das heute bei uns auch nicht:
Dass Männer stark und Frauen hilflos sind, das glauben immer noch manche. Noomi und Rut zeigen uns das Gegenteil.
Dass die Zugehörigkeit zu einem Volk oder zu einer Religion das Entscheidende ist: Das glauben viele auch heute noch.
Die Geschichte von Rut erzählt etwas anderes.
Noomi hat Rut nie gedrängt, ihren Glauben anzunehmen.
Das, was zwischen den beiden wirklich stark war,
das war die Beziehung, das Vertrauen, das Sich-Aufeinander-Verlassen-Können.
Und genau darin spielt dann Gott eine Rolle.
Ich glaube:
Überall dort, wo Menschen sich bedingungslos aufeinander einlassen, da ist Gott nicht weit.
Wo Menschen sich wirklich in Not und Freude begleiten und sich nicht loslassen, da können sie sich auf Gott berufen.
Wo sich Menschen auch von den Fehlern, den Unzulänglichkeiten, den schwierigen Seiten des anderen nicht abhalten lassen,
wo Menschen den anderen lieben wie sich selbst
überall da ist Gott selbst dabei.
Und Gott ist es dabei völlig wurscht,
ob die eine aus Moab kommt und der andere aus Israel,
ob einer ein Flüchtling ist und der andere immer schon hier lebt,
ob im bisherigen Leben der eine ein praktizierender Christ und die andere eine zweifelnde Atheistin, oder Jüdin, oder Muslima war:
Daraus, dass Menschen nicht ihren eigenen Vorteil, sondern die Not der anderen im Sinn haben, kann Gott Großes machen.
Gott selbst ist viel größer als wir ihn uns vorstellen können.
Viel größer als alle Grenzen, die wir in unseren kleinen Köpfen für ihn zurechtbasteln.
Der Hauptmann von Kapernaum, von dem wir vorhin im Evangelium gehört haben, war nun ganz sicher kein frommer Christ. Aber das hat er verstanden: Jesus ist nicht nur für die da, die ihm schon immer gefolgt sind. Er hilft auch über die Grenzen von Völkern und Religionen hinweg.
Und so ergeht es auch Rut.
Sie wird, gegen alle Wahrscheinlichkeit,
gegen alle Engstirnigkeit der Israeliten,
gegen alle Engstirnigkeit auch der Glaubens- und Grenzenverwalter unserer Tage -
Rut wird eine große Frauenfigur in Israel.
Sie wird die Urgroßmutter von König David.
Und damit schafft sie es als eine der ganz wenigen Frauen des Alten auch ins Neue Testament.
Denn sie gehört nun in die Ahnenreihe von Jesus.
So erzählt es der Evangelist Matthäus.
Rut ist Vorbild: als Frau, als treue und zuverlässige Freundin - und als jemand, die die Grenzen überwindet, die Menschen ihr ziehen wollen. Dass Gott sehr deutlich auf ihrer Seite steht, das spricht nicht gerade für diese Grenzen.
Und der Friede Gottes,
der höher ist als all unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus,
Amen.
Pfarrer Dr. Nikolaus Hueck