Gottesdienst: 3. Sonntag nach Trinitatis
PredigerIn: Dr. Nikolaus Hueck, Pfarrer
Zu Jesus kamen alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören.
Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen:
Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.
Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach:
Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet?
Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude.
Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen:
Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.
Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.
Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet?
Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte.
So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.
So richtig klug ist das ja nicht.
Ich bin kein Hirte und habe keine Ahnung von Schafen.
Aber: Die 99 zurücklassen um ein einzelnes Schaf zu suchen?
Das kommt mir dann doch eher unklug vor.
Der Wolf könnte kommen - den es ja auch hier in Schwaben wieder vermehrt gibt - und der offenbar gerne Schafe reißt.
Vielleicht erwischt so ein Wolf ja zwei oder drei Schafe.
Und dann mache ich letztlich ein Verlustgeschäft.
Selbst wenn ich das eine verlorene Schaf wiederfinde.
Eins gewonnen, zwei verloren. Keine gute Bilanz.
Trotzdem sagt Jesus, dass es völlig selbstverständlich ist:
"Welcher Mensch ist unter Euch, der (...) nicht die 99 in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet".
Genauso bei der Witwe und ihrem verlorenen Groschen:
Teures Öl verschwenden, um ein Licht anzuzünden.
Viel Zeit investieren.
Am Schluss sogar noch ein Fest mit den Nachbarn feiern.
Da kommt vermutlich mehr zusammen als dieser einzelne Groschen wert ist.
Klug ist das nicht - und trotzdem hält es die Bibel für selbstverständlich.
Jesus erzählt diese Gleichnisse, um zu sagen:
Im Himmel gilt eine andere Mathematik als hier bei uns.
Ein normaler Schäfer auf der Lechheide stünde vermutlich bald ohne Herde da.
Und ein kluger Geschäftsmann rechnet auch anders als Jesus in seinem Gleichnis.
Im Himmel aber gilt der eine genau so viel wie die 99 - oder sogar noch mehr.
Im Himmel ist es erst dann gut, wenn es wieder 100 sind.
Wenn niemand mehr fehlt.
Wenn der letzte umgekehrt ist und die letzte gefunden wurde.
Erst dann herrscht Freude im Himmel.
Ich habe mich übrigens bei dieser Stelle schon immer gefragt, wie man sich eigentlich im Himmel freut. Wie diese Freude aussieht, von der Jesus erzählt.
Tanzen da die Engel? Oder schunkeln sie?
Freut man sich da oben dezent? Mit ernster, gesetzter Miene?
Oder so wie nach einem Fußballspiel, in dem Deutschland gegen Portugal gewinnt?
Wie sollen wir uns das vorstellen?
Vielleicht geht da auch meine Phantasie mit mir durch - aber interessieren würde mich schon, wie Freude im Himmel aussieht.
Über die eine, die zurückkommt.
Über den einen, der verloren gegangen war und dann wiedergefunden wurde.
Und dann stelle ich mir die Frage, zu wem ich selbst eigentlich gehöre:
Bin ich der eine, dem der Hirte nachgehen muss?
Bin ich der, über den Freude herrscht im Himmel?
Oder gehöre ich zu den 99, die alleine zurückbleiben?
Bei Lukas erzählt Jesus das Gleichnis den Pharisäern.
Er antwortet mit dieser kleinen Geschichte auf die Kritik an ihm:
"Du gehst zu den Sündern, du setzt dich mit den miesen und betrügerischen Zöllnern an einen Tisch und isst mit ihnen." Das sagen die Pharisäer.
Und Jesus antwortet ihnen, dass Gott ihn nicht nur zu den Frommen, den Rechtgläubigen gesandt hat.
Sondern auch zu denen, die auf dem Holzweg sind.
Die sich von den anderen abgesondert haben.
Die nicht mehr zurückfinden aus den vielen Sackgassen ihres Lebens.
Zu denen soll Jesus gehen, sagt er.
Zu jedem einzelnen von ihnen.
In meinem Religionsunterricht in der Grundschule hat man mir beigebracht:
Die 99 Schafe sind die Pharisäer.
Sie murren, weil sie Jesus nicht verstehen.
Eigentlich müsste er sich doch um sie, also um die Vorbildlichen und Gerechten kümmern.
Stattdessen geht er zu den Sündern.
Aber das habe ich schon als Kind nicht kapiert:
Wenn die Pharisäer ihn nicht verstehen,
wenn sie Jesus kritisieren,
wenn sie ihn dafür beschimpfen, dass er zu den Falschen geht:
Dann sind doch ganz offensichtlich auch die Pharisäer selbst auf dem Holzweg.
Dann sind doch auch sie in eine Sackgasse: Der Sackgasse der Selbstgerechtigkeit.
Dann sind es doch auch die Pharisäer, zu denen Jesus gehen muss, um sie wieder zurückzubringen.
Vielleicht zurückzubringen auf den Weg der Barmherzigkeit gegenüber denen, die nicht so sind wie sie selbst.
Deren Glauben nicht so stark ist wie ihrer.
Die sich nicht so gesetzestreu leben wie sie.
Damit habe ich - wie gesagt - schon als Kind zu kämpfen gehabt:
Wer sind den nun die 99 Schafe und wer das eine?
Vielleicht ist die Antwort gar nicht so schwer:
Jesus geht es genau nicht darum, die Menschen einzuteilen.
Seine Sorge macht keinen Unterschied zwischen denen,
die ihm nah sind und denen, die sich von ihm abwenden.
Er will sagen: Bei Gott, da sind alle Menschen wichtig.
Jeder einzelne. Wirklich jeder.
Niemand ist aufgegeben - egal wie weit ich mich von Gott entfernt habe.
Egel, wie sehr ich mich verrannt habe in meinem Leben.
Egal wie verzweifelt und hoffnungslos ich bin.
Gott lässt mich nicht allein.
Gott gibt niemanden auf - nicht einmal mich.
Das ist eine gute Botschaft für uns.
Es tröstet uns, wenn es uns schlecht geht.
Wenn wir das Gefühl haben, dass Gott weit weg ist.
Wenn sich auch die Menschen weit weg anfühlen.
Wenn wir alleine sind, wenn wir uns Vorwürfe machen, wenn wir traurig sind.
Wir können uns darauf verlassen:
Gott sucht nach uns. Er lässt uns nicht allein.
Wir gehören zu ihm - und das wird sich niemals - wirklich niemals ändern.
So ist es ein schönes, ein trostreiches Gleichnis.
Das Gleichnis wird aber dann durchaus unbequem für uns,
wenn wir uns zu den 99 Schafen rechnen.
Zu denen also, die doch eigentlich alles richtig machen.
Wenn wir uns gut und gerecht fühlen -
und wenn wir anfangen, die anderen abzuschreiben.
Die anderen, die nicht so leben wie wir.
Die nicht so glauben wie wir.
Wenn wir die im Namen Gottes abschreiben.
Ihnen nicht zutrauen, dass Gott auch nach ihnen sucht.
Dann wird dieses Gleichnis unbequem.
Nicht nur in der Kirche, sondern in unserer ganzen Gesellschaft gewöhnen wir uns daran, Menschen abzuschreiben.
Nicht mehr mit ihnen zu reden, weil es eh keinen Zweck hat.
Was soll ich noch mit Verschwörungserzählern und Corona-Leugnern sprechen, fragen sich viele?
Da mache ich mich doch nur selbst schmutzig, wenn ich mich auf sie einlasse.
Die haben sich doch längst selbst verabschiedet aus einer vernünftigen Diskussion.
Was bringt's, mit denen noch zu streiten?
Oder: Warum soll immer ich den ersten Schritt machen, mit meinem Onkel, meiner Schwiegertochter, meinem Sohn zu reden, die doch schon so lange nur noch mit mir streiten.
Was soll's, es hat doch keinen Sinn, immer wieder die selben Gespräche zu führen und dann noch wütender auseinanderzugehen, als man eh schon aufeinander war.
Nein, das Gleichnis von dem verlorenen Schaf will keine therapeutische Anleitung für uns sein.
Es will uns nicht erzählen, wie wir die tiefen Gräben in unserer Gesellschaft überbrücken.
Oder wie wir in unseren Familien wieder anfangen zu reden.
Jesus will uns erzählen, wie Gott ist.
Aber wenn wir das Gleichnis hören, dann spüren wir einen Geist darin.
Einen Geist, der auch uns prägt.
Es ist kein Zufall, dass in den christlich geprägten Kulturen der Einzelne eine so wichtige Rolle spielt. Während in anderen Kulturkreisen die Gemeinschaft alles ist. Der einzelne zählt dort nur etwas, weil und wenn er der Gemeinschaft dient.
Ja, ich glaube tatsächlich: Wer seinen christlichen Glauben ernst nimmt, kann niemanden verloren geben.
Muss Kontakt halten. Sprechen. Überzeugen.
Auch mal deutlich streiten.
Wir dürfen uns gegenseitig nicht loslassen - weil eben jeder einzelne zählt.
Keine Gesellschaft kann auf die Dauer mit den tiefen Gräben leben, die unser Schweigen hinterlässt.
Und keine Familie wird glücklich, wenn es da diese dauernden Feindschaften und unausgesprochenen Zerwürfnisse gibt.
Und wenn sich niemand bemüht, ehrlich und aufrichtig die Dinge aufzuarbeiten.
Ich glaube, die Engel im Himmel freuen sich nicht nur über jeden einzelnen, der umkehrt.
Sie freuen sich auch über jeden Versuch, Gräben zwischen Menschen zu überbrücken.
Über jeden Versuch, sich gegenseitig festzuhalten, miteinander zu reden.
Ehrlich. Liebevoll trotz allem.
Wir müssen uns danach nicht unbedingt in den Armen liegen.
Aber wir sollten uns nach einem solchen Gespräch wieder in die Augen schauen können,
miteinander reden können ohne Gift und Galle.
Und wir sollten spüren: Wir gehören zusammen, zur selben Familie, zur selben Gesellschaft.
Und diese Familie oder diese Gesellschaft ist erst ganz, wenn alle dabei sind.
Deshalb müssen wir reden.
So schwer und aussichtslos das auf den ersten Blick auch erscheinen mag.
Ich glaube, auch darüber freuen sich die Engel.
Und dann tanzen sie. Oder schunkeln.
Und vor allem: Sie singen. Ganz ohne FFP2-Maske.
Amen.